Kreta und das Meer

Kreta und das Meer
Kreta und das Meer
 
Die kulturelle Entwicklung Kretas wurde nicht zuletzt bestimmt durch die zentrale geographische Position der Insel im östlichen Mittelmeer, annähernd in gleicher Entfernung vom griechischen Festland, von Kleinasien, von der nordafrikanischen Küste, am Schnittpunkt der Seerouten, die vom Westen nach Osten in Richtung Zypern und Levante, den östlichen Mittelmeerländern, führen. Die Bewohner der griechischen Inselwelt waren seit der Jungsteinzeit in der Lage, beträchtliche Entfernungen auf dem Seeweg zu überbrücken.
 
Auf der Insel Kythera nahe der Südspitze der Peloponnes, überraschend weit entfernt von Kreta, hat sich eine Siedlung aus dem 3. Jahrtausend v. Chr. nachweisen lassen, deren Keramik fast ausschließlich minoischer Herkunft ist. Hier findet man demnach nicht nur Spuren vorübergehenden kommerziellen oder politischen Interesses, sondern bereits eine frühe Kolonisationstätigkeit. Während der Altpalastzeit lässt sich der Einfluss der überlegenen minoischen Kultur auf die Kykladen sowie teilweise auf das griechische Festland vorwiegend durch den Export von Kamareskeramik fassen. Bis zur Spätbronzezeit dominiert Kreta nun offenkundig die Seerouten innerhalb der griechischen Inselwelt, wie man aus verschiedenen kykladischen Funden, zum Beispiel bei Kastri auf Kythera oder in Hagia Irini auf Keos, schließen kann. Dort fand man unter anderem minoische Keramik und Felskammergräber.
 
Weitere deutliche Spuren finden sich auch auf Karpathos und Rhodos, wo Reste minoischer Wandmalereien zutage kamen. Selbst die frühen Kulturschichten von Milet sind durch minoische Keramik geprägt. Die archäologischen Funde gestatten es so, das Bild eines weit gespannten Handelsnetzes zu rekonstruieren, das die Inselwelt der Kykladen und der Dodekanes ebenso wie die Küste Kleinasiens umfasst und darüber hinaus die nördliche Ägäis einschließt. Regelrechte Kolonien auf einzelnen Inseln scheinen eine intensivere politische Kontrolle ermöglicht zu haben.
 
Zwei Hauptmotive lagen dieser Expansion zugrunde: die Kontrolle des Meeres mit dem Schutz der Insel Kreta selbst, deren unbefestigte Siedlungen sonst Piraten und Angreifern vom Meer her wehrlos ausgeliefert gewesen wären, und Handelsinteressen. Nicht zuletzt dürften es bestimmte Rohstoffe gewesen sein, die das Interesse der minoischen Herrscher auf sich zogen: Obsidian von der Insel Milos, Lapis Lakerdämonius, ein grün-schwarzer, harter Stein in Lakonien, ein beliebtes Material für Steingebisse, Silber auf der Insel Siphnos, Silber wohl auch im Gebiet des attischen Laurion.
 
Das minoische Kreta unterhielt jedoch bereits seit dem 3. Jahrtausend v. Chr. sehr viel weiter gespannte Handelsbeziehungen, die über die engeren Grenzen der Ägäis hinausweisen. Importierte ägyptische Steingefäße beeinflussten das frühe kretische Kunsthandwerk, die Praxis des Siegelns darf auf östliche Vorbilder zurückgeführt werden.
 
Im frühen 2. Jahrtausend war die reich dekorierte, elegante Kamareskeramik im östlichen Mittelmeergebiet sehr begehrt, wie Funde aus Ägypten und dem Vorderen Orient, etwa aus den großen Handelsplätzen Byblos und Ugarit, zeigen. Es muss schon früh neben einem reinen Handelsaustausch zu intensiveren Begegnungen gekommen sein: Spiraldekorationen auf ägyptischen Skarabäen und in ägyptischen Wandmalereien des Mittleren Reiches spiegeln die Kenntnis minoischer Kunst jenseits der Küsten des Mittelmeeres wider. In Keilschrifttexten aus Mari im heutigen Süden Ägyptens werden kostbare kretische Metallarbeiten erwähnt. Minoische Künstler haben auf der anderen Seite bestimmte Formen aus Ägypten übernommen, so zum Beispiel die Darstellung der Sphinx. Adaptiert wurde sogar der Typus einer ägyptischen Gottheit, der nilpferdgestaltigen Taurt, die den Haushalt schützt und die Fruchtbarkeit gewährleistet. Sie erscheint in der minoischen Kleinkunst allerdings nicht mehr als Göttin, sondern herabgestuft als Genius oder dämonenartiges Wesen, das mit der Fruchtbarkeit der Pflanzenwelt verbunden ist.
 
Der politische Kontakt, wie er zum Beispiel zwischen Kreta und dem ägyptischen Reich gepflegt wurde, förderte auch den künstlerischen Austausch. Freskenmaler aus Kreta und vielleicht auch von den Kykladen arbeiteten im 16. Jahrhundert in Ägypten und im Nahen Osten. Wandmalereien im Palast eines kanaanäischen Lokalfürstens in Tell Kabri im nördlichen Israel und eindeutig minoische Malereien in der Hyksos-Residenz von Anaris, dem heutigen Tell ed-Daba im Nildelta, lassen hieran keinen Zweifel. In Tell ed-Daba ist das Stierspringen im minoischen Stil dargestellt. Im Nahen Osten war es immer üblich, dass Handwerker, Künstler und Angehörige anderer spezialisierter Berufe wie zum Beispiel Seher oder Ärzte mobil waren, von Hof zu Hof wanderten oder von den Herrschern geschickt wurden. In diesem Austausch, der eine frühe Stufe internationaler Kultur im östlichen Mittelmeerraum bezeugt, war die minoische Hofkultur offenbar als gleichberechtiger Partner einbezogen.
 
Für den Handelsaustausch von Bedeutung blieben auch die Stadtstaaten an der syrischen Küste, allen voran Ugarit, das heutige Ras Schamra. In Keilschrifttexten aus dieser Stadt wird Kaphtor, das heißt Kreta, als Heimat des Schmiedegottes bezeichnet, auch dies ein Hinweis auf das Ansehen und den hohen Rang minoischer Kultur im Orient.
 
Die Seewege nach Osten und Süden, freundschaftliche Verbindungen zu den Pharaonen wie zu den Kleinherrschern der Levante waren für Kreta, darüber hinaus für den gesamten ägäischen Kulturkreis lebensnotwendig, um die in der Ägäis fehlenden wichtigen Rohstoffe wie zum Beispiel Halbedelsteine oder Elfenbein, die in den Palastwerkstätten der Insel verarbeitet wurden, zu importieren. Importiert wurde auch Gold aus Ägypten, Zinn aus Innerasien, Kupfer aus Zypern, mit dem Kreta bereits Anfang des 2. Jahrtausends v. Chr. in Kontakt stand. Im 16. Jahrhundert v. Chr. hatten sich die Beziehungen so intensiviert, dass nicht nur kretische Keramik in Zypern eingeführt wurde; die Bewohner Zyperns übernahmen sogar das System der minoischen Linear-A-Schrift, das sie den Bedürfnissen ihrer eigenen Sprache anpassten.
 
Prof. Dr. Hartmut Matthäus
 
 
Demargne, Pierre: Die Geburt der griechischen Kunst. Die Kunst im ägäischen Raum von vorgeschichtlicher Zeit bis zum Anfang des 6.vorchristlichen Jahrhunderts. München 1965.
 
Kreta. Das Erwachen Europas, herausgegeben vom Niederrheinischen Museum der Stadt Duisburg. Duisburg 1990.
 Matz, Friedrich: Kreta und frühes Griechenland. Prolegomena zur griechischen Kunstgeschichte. Neuausgabe Baden-Baden 31979.
 Schiering, Wolfgang: Funde auf Kreta. Göttingen u.a. 1976.

Universal-Lexikon. 2012.

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